017 - Interview mit Prof. Dr. med. Sven Gottschling

Im Interview mit Ergotopia Geschäftsführer Alexander Weitnauer beantwortet Dir Schmerzexperte Prof. Dr. med. Gottschling 8 spannende Fragen zum Gesundheitssystem und ganzheitlicher Schmerzprävention.

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Shownotes

Interview mit Prof. Dr. Gottschling

Frage 1: In Deutschland scheint die Zahl der Schmerzpatienten zuzunehmen. Kann in der Schmerzbehandlung- und prävention mehr getan werden, als momentan der Fall ist?

  • Es muss sogar mehr getan werden. Derzeit leiden etwa 23 Millionen Deutsche unter anhaltenden Schmerzen, also etwa jede vierte Person.

  • In jeder Familie gibt es mindestens eine chronisch schmerzerkrankte Person. Das wirkt sich auch negativ auf andere Familienmitglieder aus.

  • Dem stehen gerade mal tausend ausgebildete Schmerztherapeuten gegenüber.

  • So bringen Schmerzgeplagte ungefähr eine sechsjährige Schmerz-Odyssee hinter sich, bis sie tatsächlich einem Schmerzspezialisten vorgestellt werden. Doch bis dahin ist die Erkrankung schon oft chronifiziert, sodass sich die Therapie als schwierig erweist.

  • Die Ursache für den Mangel: Das Fach “Schmerzmedizin” wird Medizinstudenten erst seit 2016 näher gebracht. Erst seit drei Jahren ist dieses Pflichtlehr- und Prüfungsfach für Medizinstudenten.

Frage 2: Wir bräuchten also mehr Schmerzexperten-, therapeuten, mehr Weiterbildungen, klassische Behandlungen, aber vielleicht auch alternative Ansätze. Wie stehen Sie dazu?

  • Es sollte ein gesunde Kombination sein. Die meisten Rückenschmerzen sind funktionelle Störungen, die überhaupt nicht bedrohlich sind.

  • Degenerative Veränderungen liegen in der Natur des Menschen. So lassen sich bei jedem Menschen über dreißig Auffälligkeiten der Wirbelsäule im Röntgenbild finden lassen. Das muss aber nichts mit den Beschwerden zu tun haben, die diese Person hat.

  • Trotzdem sind wir Weltmeister im Diagnostizieren. Wir machen Röntgenbilder und finden blöderweise auch immer etwas, obwohl Veränderungen ganz natürlich sind.

  • Auffälligkeiten im Röntgenbild werden dann oft mit bestehenden Schmerzen in Zusammenhang gebracht werden. Das ist grundsätzlich falsch.

  • Der schlechteste Weg für die Genesung von Rückenschmerzen sind Schonung und eingreifende Verfahren wie Operationen.

  • Nur etwa jeder zwanzigste Patient profitiert von Rückenoperationen und bei jeder dritten Person verschlimmert sich sogar der Zustand. Dieses Konzept benötigt daher ein Umdenken.

  • Schmerzgeplagten sollte Mut gemacht werden, sich nicht zu sehr zu schonen, vielleicht Physiotherapie in Anspruch zu nehmen und schnell wieder ins Alltagsleben zurückzukehren.

Frage 3: Wir haben bei Ergotopia mal eine Schmerzstudie durchgeführt, in der es auch um die primären Informationsquellen für Gesundheitsfragen ging. Dabei kam heraus, dass der Arzt, aber auch das Internet Hauptinformationsquellen sind. Sehen Sie diesbezüglich ein Problem des Gesundheitssystems in Sachen Kommunikation oder bewerten Sie diesen Trend positiv?

  • Ich sehe da ein riesen Problem. Die durchschnittliche Arzt-Patienten-Kontaktzeit beträgt im Schnitt nur fünf bis acht Minuten. In dieser Zeit kann man den Mensch nicht annähernd in seiner Gesamtheit erfassen.

  • Eine Studie zeigte außerdem, dass es maximal 15 bis 20 Sekunden dauert, bis der Arzt den Patienten unterbricht, wenn dieser von seinen Schmerzen berichtet. Es besteht also ein großes Mitteilungsproblem.

  • Schmerzen sind ein biopsychosoziales Geschehen. Stress kann beispielsweise Schmerzen verstärken. In der kurzen Kontaktzeit lässt sich das jedoch nicht herausfinden.

  • Daher werden Medikamente voreilig verschrieben, obwohl andere Ursachen hinter den Schmerzen stecken. Aus diesem Grund sucht der Mensch nach anderen Wegen (z.B. Internet, Alternativ-/Komplementärmedizin).

  • Das Internet ist jedoch ein Risiko für medizinische Laien. Es ist schwierig, zwischen guten und lediglich “gut gemachten” Informationen zu unterscheiden.

Frage 4: Was kann ich als Patient konkret machen, wenn mir eine ärztliche Person nicht zuhört? Kommt eher ein Arztwechsel in Frage oder kann ich das ansprechen?

  • Prof. Dr. med. Gottschling empfiehlt stets eine Vorbereitung auf Arztbesuche. Was sind die wichtigsten Fragen? Welche Informationen möchte ich für mich klären und welche braucht der Arzt? Was möchte ich dem Arzt mitteilen?

  • Außerdem rät er Patienten, den Arzt vorab zu fragen: “Wie viel Zeit haben Sie für mich?”

  • Wenn der Arzt trotzdem nicht auf den Patienten eingeht, sollte man über einen Wechsel nachdenken.

Frage 5: In unserer Schmerzstudie fanden wir auch heraus, dass Schmerzgeplagte ihre Schmerzintensität auf einer Skala von eins bis zehn mit “sechs” oder höher bewerteten. Wie kann es sein, dass selbst solche starken Schmerzen vom Gesundheitssystem häufig hingenommen oder zugelassen werden?

“Wir haben so viele schmerzgeplagte Menschen und dem medizinisch so wenig entgegenzusetzen. Ich stell nochmal die Zahl hin: 23 Millionen Schmerzbetroffene und nur 1000 wirklich dafür professionell ausgebildete Ärzte. Wenn man sich jetzt noch überlegt, dass ein Schmerzmediziner – weil die Betreuung einfach intensiver ist – nur 300 Patienten im Quartal behandeln darf, dann wird jedem klar, dass die allermeisten Schmerzgeplagten niemals einen solchen Spezialisten sehen werden.” 

Prof. Dr. med. Gottschling
  • Diese Problematik belastet nicht nur Menschen persönlich, sondern das ist auch ein relevanter volkswirtschaftlicher Faktor. Denn ein Mensch mit Schmerzen kann nur bedingt am Arbeitsplatz “funktionieren”. Das wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens aus (zum Beispiel auch auf die Familie).

  • Es wird Zeit für ein anderes Bewusstsein und wir müssen dieses wesentliche Thema viel stärker in den Fokus rücken. Deutschland benötigt zum Beispiel die Ausbildung neuer Schmerzexperten, Aufklärungskampagnen, etc.

  • Eines der Ziele von Prof. Dr. med. Gottschling ist es, Aufklärungsarbeit zu leisten und Menschen zu zeigen, dass sie ein Recht auf eine ädaquate Schmerzbehandlung haben.

Frage 6: Nun hat ein Patient die Diagnose “unspezifische Rückenschmerzen” und weiß nach einem Arztbesuch nicht weiter. Wahrscheinlich sucht die Person daraufhin im Internet nach weiteren Informationen. Wie kann man als Patient bei der Informationsflut durchblicken und wie genau erkennt man korrekte Informationen?

  • Für einen medizinischen Laien ist das kaum zu bewerkstelligen. Viele Seiten wirken seriös, obwohl das bei Weitem nicht der Fall ist. Die Kernaufgabe eines Hausarztes sollte auch sein, Menschen mit ihren gesundheitsbezogenen Problemen da durchzuführen.

  • Ansonsten kann es sein, dass immer weiter diagnostiziert wird. Je mehr Untersuchungen man anleiert, desto mehr Zufallsbefunde wird man aufdecken, die jedoch keinerlei Krankheitswert haben.

  • Der Patient fühlt sich dadurch immer kränker, da immer mehr Baustellen aufgemacht werden, die das eigentliche Kernproblem in den Hintergrund rücken. Das ist ein häufiges Problem bei unspezifischen Rückenschmerzen.

  • Diese sind oft Ausdruck einer funktionellen Überforderung. So führen die heutigen Leistungsanforderungen an den Menschen mitunter zu Krankheiten.

  • Daher ist wichtig, auch die bio-psychosozialen Ursachen unter die Lupe zu nehmen, statt nur auf körperlicher Ebene nach Ursachen zu suchen.

  • In der Gesellschaft sind körperliche Probleme jedoch wesentlich akzeptierter als eine psychische Störung. Das ist ebenfalls ein großes Problem, was ein Umdenken erfordert.

Frage 7: Ist es also für den gesundheitlichen Dialog und das Gesundheitssystem in Deutschland wünschenswert, dass psychische Faktoren mehr in den Mittelpunkt gerückt werden?

  • Unbedingt. Dafür brauchen wir eine funktionierende und vertrauensvolle Arzt-Patienten-Kommunikation. Dazu gehört ein ganzheitliches Verständnis und gegenseitiges Verstehen. Dafür reicht ein fünfminütiger Kontakt zwischen Arzt und Patient einmal im Quartal schlichtweg nicht aus.

  • Das ärztliche Gespräch muss in unserem Gesundheitswesen dringend aufgewertet werden. Solange eine Spritze mehr Geld gibt als ein ärztliches Gespräch, läuft etwas falsch.

  • Menschen suchen nur nach Alternativen, weil sie von den Möglichkeiten der Schulmedizin enttäuscht sind.

  • Die Aufgabe des Gesundheitssystems ist es, diese Menschen einzufangen und auch bei schulmedizinischen Ärzten wieder eine gute Anlaufstelle zu bieten, bevor Schmerzgeplagte nach Alternativen suchen.

Frage 8: Welche Literatur können Sie für Rückenschmerz-Patienten empfehlen?

  • “Schmerz loswerden: Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft” und “Wer heilt, hat recht: Chancen und Grenzen der Alternativmedizin” von Prof. Dr. med. Sven Gottschling.

  • Das Medium “Die Deutsche Schmerzliga e.V.”.

  • Der Youtube-Kanal “EGesund” über Schmerzen.

  • Außerdem empfiehlt Prof. Dr. med. Gottschling Selbsthilfeorganisationen.

Weiterführende Links

Buch von Prof. Dr. med. Sven Gottschling: “Leben bis zuletzt: Was wir für ein gutes Sterben tun können”
Buch von Prof. Dr. med. Sven Gottschling: “Wer heilt, hat recht: Chancen und Grenzen der Alternativmedizin”
Youtube-Kanal “EGesund”

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